Castorps Erbe - Der Homöopath

Auszug aus dem Abschnitt "Hiddensee"
Auszug aus dem Abschnitt Terror



Auszug aus dem Abschnitt "Hiddensee" 


Allerdings genoss Katarina Lehte den Strandspaziergang an diesem Tage nicht in gewohnter Weise, ließ sich nicht fallen im Gedanken an die Ewigkeit des Meeres, weil es galt, eine Aufgabe zu erfüllen, den Homöopathen zu finden, und das ging in Anbetracht der Umstände nicht vollständig ohne Peinlichkeit vonstatten.

Denn ihr gelang es nicht, vom Uferrand aus sämtliche Körper und Gesichter zu inspizieren, sie musste durch den tiefen Sand stapfen, um an den Strandkörben vorbeispähen zu können. Es war einfach nicht ohne Auffälligkeit zu machen, so mancher Blick fiel auf die junge Frau, die sich erkundend durch das Strandleben schlängelte. Und auch das Wasser war ja nicht außer Acht zu lassen, der Homöopath konnte sich gerade eine Erfrischung verschaffen.

So ging es nur mühsam voran, und Katarina Lehte legte Pausen ein. Am frühen Nachmittag erreichte sie Vitte, vom Homöopathen keine Spur. Zweifel hatte sie nun aber keine mehr, sie fühlte, dass Marten Castorp hier irgendwo war, ob er sich jedoch am Strand aufhielt, dessen war sie sich nicht sicher. Unverdrossen hielt sie weiter Ausschau, wanderte scheinbar ziellos den Strand auf und ab.

Als sie ihn sah, neigte sich der Strandtag bereits. Er war am Strand von Kloster, am Fuße des Inselberges, dem Dornbusch, noch hinter den letzten Strandkörben, allein, eine Fachzeitschrift lesend, als einziger der hier Sonnenbadenden mit einer Badehose und einem T-Shirt bekleidet.

"Ich hab's doch gewusst", sagte Katarina Lehte lächelnd und prüfte den Sitz ihrer Sonnenbrille. Einen Augenblick lang ergriff sie ein tiefes Glücksgefühl, im nächsten hegte sie berechtigte Zweifel, ob der Homöopath seinerseits Freude empfinden würde. Katarina Lehte hatte sich, von ihm unbemerkt, bis auf wenige Meter genähert, sie ging an ihm vorbei und setzte sich neben ein Pärchen an den Dünenrand.

"Soll ich jetzt gleich zu ihm hingehen? Besser, ich warte ab und folge ihm, ohne dass er's merkt. Vielleicht wohnt er ja ganz in der Nähe, da klopfe ich dann heute Abend an."

Ihr Herz drängte sich in den Vordergrund. Marten Castorp lag in halb aufrechter, bequemer Haltung in einer Mulde, wahrscheinlich hatte er sie eigenhändig ausgehoben und besetzte sie gewohnheitsmäßig. Trotz eines auffällig breiten Huts und einer Sonnenbrille hatte Katarina Lehte ihn sofort erkannt, es kam ihr vor, als kennten sie sich schon Ewigkeiten, ein guter, alter Freund, - mehr als das ... "Warum soll ich ihn nicht jetzt ansprechen, hier an Ort und Stelle? Welchen Sinn macht es, ihn zu verfolgen, heimlich, hinter seinem Rücken? Nein, das ist nicht meine Art. Was schlägt mir also das Herz? Höchste Zeit, dass ich auf ihn zugehe, schließlich habe ich es nicht anders gewollt und bin seinetwegen nach Hiddensee gefahren." So tat sie. "Hallo, Marten."

Marten Castorp setzte die Sonnenbrille ab und rieb sich die Augen, gerade so, als wäre er aufgewacht aus einem langen Schlaf und traue seiner Wahrnehmung nicht. Katarina Lehte stand vor ihm in einem rot-weiß karierten Bikini. "Katarina", brachte er in einem Tonfall hervor, der sich aus Entsetzen und Verwirrung zusammensetzte.

"Ich bin zu dir gekommen."
"Woher wusstest du ...?"
"Ich habe keinen Moment lang gezweifelt. Darf ich mich zu dir setzen?"
"Bitte."
"Es ist schön hier auf Hiddensee."
"Ja? Findest du wirklich?"
"Traust du mir nicht mehr?", entgegnete sie.


Er blickte nach unten und ließ Sand durch seine Finger rieseln. Dann hob er den Kopf und sagte: "Ich liebe diese Insel, weil ich hier wunderbar allein bin, wie in der Wüste", Katarina Lehte regte sich, "keine Anrufe, keine Krankheiten." "Da wäre ich mir nicht so sicher." "Was meinst du?"

"Na, mit den Krankheiten. Ist es nicht krank, sich so allein so wohl zu fühlen, so allein, hier auf der Insel, auf Hiddensee?" "Du nimmst kein Blatt vor den Mund, sagst geradeheraus, was du denkst. Vielleicht ist das gut so, auch wenn ich manchmal nicht verstehe, was du meinst. Aber ich sage dir, Katarina: ich bin gerne allein. Alleinsein heißt frei sein. Freiheit vom Zwang, von Störung, Lärm, von Geschäften, Pflichten, Sorgen. Hier auf Hiddensee herrscht Helligkeit im Kopf. Die Luft ist gut, zwar nicht so dünn wie in den Bergen, dafür aber jodhaltig, frei und voller Aromen."

"Dein Drang nach Freiheit hat den Frauen wohl bisher keine Chance gelassen."

Marten Castorp wich aus. "Wo wohnst du denn hier auf der Insel?", fragte er. "Es ist schon reichlich spät, du kannst nicht mehr zurück." "Im Hotel Hitthim, direkt am Hafen von Kloster. Allerdings steht mein Fahrrad noch am Strand von Neuendorf. Ich konnte ja nicht wissen, wo du dich aufhältst."

"Wir können es morgen abholen", überlegte er und erkundigte sich, wie lange sie bliebe. Katarina wusste es nicht, hatte sich darüber noch nicht einmal Gedanken gemacht, Marten Castorp konnte es kaum glauben. Sie lächelten sich an. Ob er noch sauer sei, versuchte Katarina die Entspannung zu nutzen und hörte mit Erleichterung die wenigen umgehenden Worte, die schnell den Weg in die Normalität suchten. Sein kleines Reich befände sich ganz in der Nähe, wenn sie Lust habe, könnten sie ja noch auf einen Sprung ...

War das eine Frage! Nur zu gerne, ohne dabei ihre Gefühle deutlich zu zeigen, willigte Katarina ein, und schon stiegen sie einen steilen Weg hinan und hatten vom Waldesrand aus einen herrlichen Ausblick auf die Ostsee. Marten Castorp ging zügig voran, seinen Sonnenschirm als Wanderstock benutzend. Man könne sich durchaus verlaufen im Wald, meinte er, in den Zwanziger Jahren habe man mit der Aufforstung begonnen, das Ergebnis könne sich heute sehen lassen. Sein Häuschen sei auf dem Aschkoben, dem Berg Hiddensees, gebaut worden und biete bei kurzen Wegen beste Möglichkeiten, die Schönheiten der Insel zu genießen. Sie verließen nach einiger Zeit den Wald und liefen auf einem als solchen kaum zu bezeichnenden Weg. Marten Castorps Häuschen lag verborgen in der Dünenlandschaft, nur ein kleiner Teil der weiß gestrichenen Wände und das Reetdach waren von ihrer Warte aus zu sehen: entschieden machte es den Eindruck, als befände sich der Hauptteil des Hauses unter der Erde.

"So, da wären wir."


Auszug aus dem Abschnitt Terror 

Ground Zero. Kein Platz für Wortspiele und Assoziationen, ein Ort der Eindeutigkeit. Das World Trade Center ist nur noch Skelett, umgeben von Ruinen, Autowracks und Schutt, vermischt mit Überresten menschlicher Körper. Staub überzieht Manhattan wie ein Leichentuch, es herrscht Nacht trotz blauen Himmels. Ein Donnerschlag, der Tausenden das Leben raubt, der die Grundfesten der Erde erschüttert.

Saubere Fernsehbilder und bebilderte Reportagen geben bis in die Einzelheit wieder, was passiert ist, in New York, in Washington, auf freiem Feld. Zu verstehen ist es dennoch nicht. Auch Sprache gelangt an ihre Grenzen - schamhaft weigern wir uns, ausladend und wortreich zu erzählen: von eineinhalb Stunden, in denen sich zwei Flugzeuge in die beiden Türme bohrten, sich Menschen in den Tod stürzten anstatt zu verbrennen, in denen die Gebäude in sich zusammenfielen und ein Schlachtfeld hinterließen, in denen sich zahllose Schicksale schlagartig veränderten.

Was hat ein Beschwörer des Wortes hier zu suchen, wenn zugegebenermaßen seine Kraft nicht hinreicht, warum überlässt er das Feld nicht Experten und Wissenschaftlern, die handfeste Fakten auswerten können und Militärs, die Schuldige dingfest machen? Der Geist der Erzählung führt uns hierher, auf Umwegen freilich und unerwartet obendrein. Aber zufällig endet sie hier nicht, die Geschichte von Katarina Lehte und Marten Castorp, denn wo es sich um Offenheit dreht, da geht es auch um Befangenheit, etwa so, wie das Leben immer im Spiele, wenn vom Tode die Rede ist.

Am Tod Katarinas zweifelt Marten Castorp nur kurz. Ihr in Stücke zerrissener oder verbrannter Körper liegt dort irgendwo verborgen unter Trümmern. Dennoch, er hält unverdrossen Ausschau; er läuft ziellos die Straßen auf und ab, wird von Sicherheitskräften abgewiesen und landet schließlich im Farkas Auditorium des medizinischen Zentrums der New Yorker Universität. Das Rote Kreuz hat eine Anlaufstelle für Angehörige und Freunde von Vermissten eingerichtet. Freiwillige händigen Fragebögen aus und eine Frau erklärt wiederholt, worum es darin geht: um Namen, Adressen, Telefonnummern, um Kleidung und um den Aufenthaltsort im World Trade Center, um den Arzt und den Zahnarzt. Besonders auf den Zahnarzt kommt es ihr an, Marten Castorp kennt den Grund. Es ist derselbe, der auch die eilig eingerichteten Operationssäle der bangen Beschäftigungslosigkeit überlässt: die Menschen sind entweder früh genug aus dem Gebäude geflohen oder sie sind tot.

Die Gewissheit verleihenden Antworten erhält Marten Castorp von Alan Steinert, dem Chef von Mdesign, Katarinas Firma in New York. Es gehört einiges dazu, in fremder Sprache seine Identität zu klären, aber dann öffnet sich Steinerts Menschlichkeit, die ansonsten hinter seiner täglich anders gearteten Geschäftigkeit zurückstehen muss, dem Anrufer, und er erfährt, dass Katarina sich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit in den betroffenen oberen Stockwerken des Nordturms aufhielt. Die ausführlichen Gespräche mit Vertretern einer Investmentgesellschaft sollten mit einem Frühstück in dem Restaurant Windows on the World im 107. Stockwerk beginnen; Katarina stand zwei Kollegen bei, um Erfahrungen im Umgang mit Kunden aus der Finanzwelt zu sammeln. Auf acht Uhr morgens war das Treffen anberaumt worden und selbst wenn man Katarinas Neigung in Rechnung stellt, sich um einige Minuten zu verspäten, so ist hier kein Spielraum gegeben - Marten Castorp unterbricht Steinerts einsetzende Trauerausbrüche und bittet ihn gefasst, Unterlagen herauszusuchen, die für ihn in den nächsten Stunden und Tagen von Nutzen sein können.

Den Fragebogen füllt Marten Castorp unvollständig aus. Mangelnde Sprachkenntnisse sind dafür weniger verantwortlich als die kurze Aufenthaltsdauer in New York. Er war erst am Vorabend in New York gelandet, staunend war Marten Castorp in die Skyline New Yorks eingetaucht, ein Kulturschock. Er hatte Katarina forschend in die Augen geblickt, sie angesprochen, ob sie sich freue - »na klar«, hatte sie geantwortet und ihn in den Fahrstuhl des Empire State Buildings gedrückt. Gemeinsam hatten sie Katarinas Grab bestaunt, Arm in Arm, niemals wird Marten Castorp dieses Bild vergessen können. In der Nähe von Katarinas Wohnung in Greenwich Village waren sie Essen gegangen, John's Pizzeria, das Lieblingslokal von Woody Allen, Marten Castorp hatte sich etwas Romantischeres gewünscht. Sie hatten sich in Katarinas Zimmer verkrochen, sich geliebt; kurz vor dem Einschlafen hatte Katarina ihm von dem frühen Termin am Morgen im World Trade Center erzählt. Am Morgen sah er sie aus dem Augenwinkel ein letztes Mal, sie hatte ihn am späten Nachmittag abholen wollen.

Nun ist sie tot, und Marten Castorp findet sich wieder im Chaos.


zurück zum Seitenanfang







Christian Gloystein
Castorps Erbe - Der Homöopath

Erscheinungsdatum: 2002
broschiert
Axel-Dielmann-Verlag
ISBN: 3-93397-429-1
Direkt bestellen